Blockseminar und Exkursion des Masters Interdisziplinäre Polenstudien (Halle/Jena) nach Wrocław vom 23. bis 28.11.2014

Zum ersten Mal fand Ende November 2014 das Blockseminar, das in das Master-Programm Interdisziplinäre Polenstudien einführt, im Rahmen einer Exkursion nach Polen statt. Für eine Woche fuhren 9 Studierende aus Halle und Jena - den beiden Standorten des Aleksander-Brückner-Zentrums - mit ihren DozentInnen nach Wrocław, um sich in der niederschlesischen Stadt aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven mit dem Thema Migration zu beschäftigen, die Stadt und ihre Geschichte zu entdecken, wissenschaftliche Einrichtungen kennenzulernen und sich mit polnischen Studierenden und Lehrenden auszutauschen.

Im Zentrum, direkt neben der Dominsel sind wir im Gästehaus eines alten Klosters untergekommen. Erbaut auf den Ruinen eines alten Piastenschlosses aus dem 14./15. Jahrhundert, leben und arbeiten hier seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Armen Schulschwestern Notre Dame. Ein Teil von über 1000 Jahren deutsch-polnischer Stadtgeschichte - direkt unter unseren Füßen.

Den Seminarauftakt bildete ein Block zur historischen Migrationsforschung am Beispiel der Geschichte Schlesiens unter der Leitung von Prof. Dr. Yvonne Kleinmann und Dorothea Warneck, M.A. (Halle). Was ist Migrationsgeschichte, und welche Fragen stellt die historische Migrationsforschung? Welche Formen historischer Migration gibt es? Welcher methodischen Zugänge und theoretischen Ansätze bedient sich die historische Migrationsforschung in den unterschiedlichen Fächern? Und was ist das spezifisch Historische? Am Beispiel der Geschichte Schlesiens und Breslaus im 20. Jahrhundert lassen sich viele dieser Fragen untersuchen, etwa anhand von Flucht, Bevölkerungsaustausch, Vertreibung und Neuansiedlung von Polen und Deutschen zwischen 1939 und 1949 oder am Beispiel der Geschichte der Breslauer Juden. Wie die Migrationsgeschichte Niederschlesiens Eingang in die polnische Erinnerungskultur findet, etwa in der Literatur, demonstrierte die Hallenser Studentin Jill-Francis Käthlitz eindrucksvoll am Beispiel von Joanna Bators Roman Sandberg.

Eindrücke von der Exkursion hat der Hallenser Student Oliver Wiebe formuliert:

"Wir Studierenden der Interdisziplinären Polenstudien haben spätestens während dieses Seminars verstanden, dass (nicht nur) die Geschichte Polens, am Beispiels der schlesischen Stadt Wrocław, von Aus- und Einwanderungen verschiedenster sozialer Gruppen geprägt ist: Polnische Geschichte ist somit mindestens in Verbindung mit der europäischen Geschichte zu sehen. Dass sich Migrationsprozesse nicht nur in Geschichtsbüchern abspielen, machte das Seminar an Hand verschiedener bisher ungeahnter Aspekte deutlich. Angefangen von dem sonst unscheinbaren Zeichen der Migrationswellen anhand kunstgeschichtlicher Orte der Stadt und der Gebäudearchitektur bis hin zum immer noch heiß diskutierten historischen Aspekt von "Flucht", "Vertreibung", "Zwangsaussiedlung" und "Deportation" im 2011 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman "Sandberg" von Joanna Bator. Jüdische Geschichte sowie auch sprachwissenschaftliche Entwicklungen in Śląsk (dt.: Schlesien) waren immer geprägt von politischen Entwicklungen in Europa und bebildern die damalige Lage eindrücklich."

Wie sich Migration auf Sprache auswirkt, wurde im Seminar zu Migration und Sprache mit Prof. Dr. Achim Rabus (Jena) erarbeitet. Wie verändert sich die Muttersprache z.B. bei PolInnen, die nach Deutschland migriert sind? Welche Germanismen schleichen sich über die Jahre in Syntax und Lexik der Ausgangssprache und welche Polonismen in die neu erlernte Sprache? Patrycja Kołodziejska aus Halle, deren Eltern aus Polen nach Deutschland ausgewandert sind, konnte dieses Forschungsfeld der Migrationslinguistik spannend am Beispiel ihrer eigenen Familie veranschaulichen.

Ein weiterer Schwerpunkt des Seminars war die politische Nutzung und Instrumentalisierung von Sprache und Sprachwissenschaft. Bis heute sind die polnischen Westgebiete insbesondere noch auf dem Land geprägt von einer dialektalen Pluralität, die Resultat der Umsiedlungen und Vertreibungen der Nachkriegsjahre ist. Gleichzeitig hält sich bis heute der von den kommunistischen Regierungen Polens gegründete und beförderte Mythos, in der Gegend um Breslau sei das reinste Polnisch zu finden. Welche Forschungsfragen dies für die Sprachwissenschaft heute aufwirft und mit welchen Ansätzen und Methoden die Migrationslinguistik arbeitet, erfuhren wir am Beispiel einiger aktueller polnischer Forschungsprojekte.

Die politische Relevanz von Migration zeigte auch das politikwissenschaftliche Seminar, das von den polnischen MigrationsforscherInnen Dr. Patrycja Matusz-Protasiewicz (Wrocław) und Dr. habil. Maciej Duszczyk (Warschau) sowie Andrea Priebe, M.A. (Jena) gestaltet wurde. Im Mittelpunkt stand das aktuelle und in den EU-Mitgliedsstaaten kontrovers diskutierte Thema der Arbeitnehmerfreizügigkeit für BürgerInnen der Europäischen Union. Während Polen als klassisches "Entsendeland" auf die Gewährleistung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der damit verbundenen Sozialleistungen für alle ArbeitnehmerInnen besteht, hat sich die ursprünglich arbeitsmigrationsfreundliche Position der britischen Regierung in den vergangenen Jahren drastisch verschoben und drängt nun auf flexiblere Regelungen in dieser zentralen Frage des EU-Gemeinschaftsrechts. In einem Planspiel, das der Jenaer Student Wolf Keil entwickelt hatte, waren die Studierenden gefordert, ein Vorbereitungstreffen des nächsten EU-Gipfels zu simulieren und dabei als polnische, britische bzw. deutsche DelegationsvertreterInnen zu agieren. Dieser Perspektivwechsel ermöglichte Einsichten in die unterschiedlichen und z. T. kaum zu vereinbarenden Interessenlagen der EU-Staaten und die damit verbundenen Herausforderungen hinsichtlich der Erlangung politischer Kompromisse.

Einen Einblick in die polnisch-jüdische Geschichte und die dazu an der Universität Wrocław betriebene Forschung erhielten wir von einer Doktorandin des Instituts für Judaistik. Eine Stadtführung zur jüdischen Geschichte Breslaus im 20. Jahrhundert sowie ein Besuch der Stiftung Bente Kahan und der Synagoge zum Weißen Storch gaben uns eine Vorstellung davon, wie reich und vielfältig jüdisches Leben in Wrocław vor und auch noch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war.

"Überall in Breslau stößt man auf die großen und kleinen Spuren seiner wechselvollen Geschichte. (...) Auf mich persönlich hat die Storchensynagoge den größten Eindruck hinterlassen - dies war überhaupt mein erster Besuch einer Synagoge,"

beschreibt die Hallenser Studentin Jill-Francis Käthlitz ihre Eindrücke.

Einen viele stark beeindruckenden Vortrag zu 1000 Jahren jüdischer Migrationsgeschichte in Polen hielt im Anschluss an die Stadtführung Prof. Dr. Marcin Wodziński, Spezialist für jüdische Geschichte an der Universität Wrocław.

Auch das Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław haben wir besucht. Nach einer Einführung in die Tätigkeitsbereiche dieser 2002 gegründeten Lehr- und Forschungseinrichtung durch den Direktor des Zentrums, Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz, stellte uns der Germanist Prof. Dr. Marek Zybura ausgewählte Publikationen des Zentrums im Kontext deutsch-polnischer Verflechtungen vor und präsentierte Briefwechsel deutscher und polnischer Schriftsteller in Originaldokumenten. Im Anschluss diskutierten die Studierenden das Phänomen Migration mit dem Soziologen Prof. Dr. Jochen Roose, der vor allem den internationalen Vergleich anregte.

Den inhaltlichen Abschluss des Seminars bildete ein propädeutischer Teil der Lehrenden, in dem sie fachspezifische, aber disziplinenübergreifend nutzbare Ressourcen der Polenstudien wie Handbücher, Zeitschriften, Internetportale und Forschungseinrichtungen vorstellten.

An den Abenden erkundeten wir die Breslauer Kultur- und Musikszene. Auf dem Programm stand u.a. Jerzy Stuhrs neue Komödie "Obywatel", die nach der Art von "Forrest Gump" ein Panorama aus 70 Jahren polnischer Zeitgeschichte entwirft. Einen Einblick, wie experimentell und provozierend polnisches Theater sein kann, gab das Stück "Sprawa Dantona" von Jan Klata, einem der bekanntesten polnischen Regisseure der Gegenwart. Ein Stück polnischer Rockgeschichte bot das Konzert von Artur Rojek, dem Sänger und Gitarristen der Band Myslovitz. Kneipenabende im Studentenviertel gaben einen Einblick in das Nachtleben der Stadt.

Eine besondere Begegnung war das Treffen mit polnischen Studierenden der Kunstgeschichte im Studentenclub Sztuczki. Hier wurden erste Kontakte mit polnischen Studierenden, DozentInnen und WissenschaftlerInnen verschiedener Institute und Forschungseinrichtungen geknüpft, die uns wichtige Informationen über Studienbedingungen an polnischen Universitäten und das Studentenleben in Wrocław gaben. Wolf Keil aus Jena resümiert:

"Die Zusammenkunft mit gleichaltrigen Studierenden aus Wrocław ist mir besonders in Erinnerung geblieben. In entspannter Atmosphäre erzählten die GastgeberInnen von ihrer Studienstadt. Bei einem gemeinsamen Spaziergang lagen die farbenfrohen und an manchen Orten auch nachdenklich stimmenden Spuren der Stadtgeschichte dann vor uns. So hatte ich mir Interdisziplinäre Polenstudien vorgestellt."

Auch die Kontakte zwischen dem Brückner-Zentrum und der Universität Wrocław, insbesondere den Instituten für Kunstgeschichte und Judaistik, wurden an diesem Abend intensiviert und mit neuen Inhalten gefüllt, zum Beispiel mit dem Plan eines Erasmus-Vertrags.

Die gemeinsame Seminarauswertung ergab, dass alle TeilnehmerInnen sowohl den intensiven Lernprozess als auch den Exkursionscharakter der Blockveranstaltung positiv bewerteten:

"Das Blockseminar in Breslau war eine sehr gute Gelegenheit, das Aleksander-Brückner-Zentrum und seine Mitglieder, sowie die Kommilitonen der Polenstudien, gleich zu Beginn des Masterstudiums besser kennen zu lernen. Der Standort Wrocław war meiner Meinung nach gut gewählt, da die Stadtgeschichte wunderbar zu unserem Thema der Migration passte und Breslau außerdem sehr viel an Schönheit, Kultur, und Lokalitäten zu bieten hat, so dass sich die Freizeitgestaltung als sehr angenehm herausstellte"

meint Kristina Fischer aus Jena. Ihre Kommilitonin Patrycja Kolodziejska aus Halle ergänzt:

"Die Beleuchtung eines Themas aus verschiedenen Perspektiven und das noch vor Ort im Form eines Exkursionsseminars fand ich sehr ertragreich und schön, (...) ich denke in kaum einer anderen Form ist so eine geballte Ladung an Wissen und Austausch sonst möglich."

Die vielen neuen methodischen und theoretischen Zugänge sind für die Studierenden im interdisziplinären Masterstudiengang am Beginn ihres neuen Studiums eine große Herausforderung. Die eigene disziplinäre Prägung, das im Bachelor angeeignete methodische und theoretische Wissen wird im Master Interdisziplinäre Polenstudien wie auch in anderen fächerübergreifenden Studiengängen mit dem Wissen von KommilitonInnen aus anderen Disziplinen konfrontiert. Grundsätzlich ist zu klären, was interdisziplinär überhaupt heißen und bedeuten könnte. Dabei erste Denkanstöße zu geben, war ein wesentliches Ziel des Blockseminars.

"Dadurch, dass sich 'Migration' als thematische Klammer um alle Seminarveranstaltungen spannte, wurde eine sehr spezielle inhaltliche Kohärenz erreicht. Das regte sehr dazu an, fachinterne und fachübergreifende Perspektiven zu reflektieren",

beschreibt Jill-Francis Kätlitz aus Halle ihre ersten Eindrücke von den Möglichkeiten und Herausforderungen interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeitens.

Die OrganisatorInnen der Exkursion hat die Breslauer Erfahrung motiviert, das einführende Blockseminar auch für die nächsten Jahrgänge der Interdisziplinären Polenstudien in Kooperation mit unterschiedlichen polnischen Universitäten anzubieten. Es soll sich als intensiver und begegnungsreicher Einstieg in das Studium etablieren.

Autorinnen: Andrea Priebe M.A.; Dorothea Warneck M.A.