Plurale Polonität: Sprachen, Gesellschaften und Kulturen

Der Ausgangspunkt dieses Forschungsfeldes ist die Frage danach, was, wann und wo Polen beziehungsweise polnisch war und ist. Es ist unser Anliegen, Polen im Plural zu denken. Deshalb sprechen wir nicht von dem einen Polen oder der einen polnischen Sprache, sondern befassen uns vor allem mit Konstellationen, in denen Polonität (polskość) in all ihren Facetten ausgehandelt wurde und wird.

Polonität kann sich beispielsweise auch jenseits der staatlichen Grenzen Polens in unterschiedlichen Formen der Emigration äußern. Sie kann ebenso innerhalb bestimmter historischer Grenzen Polens in der Kommunikation zwischen unterschiedlichen sozialen, religiösen und ethnischen Gruppen debattiert werden, etwa in der Auseinandersetzung um konkurrierende Rechtsvorstellungen in der frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert.

Auf Grundlage dieser Erwägungen kristallisieren sich in diesem Forschungsfeld folgende miteinander verflochtene Kernthemen heraus:

  • ethnisch-religiöse Vielfalt
  • Mehrsprachigkeit und Sprachkontakte
  • Rechtspluralismus und Rechtskonkurrenz

Der Ansatz, Polen im Plural zu denken, erfordert auch methodische Pluralität. Unsere Maxime ist es daher, methodische Ansätze und Denkweisen verschiedener mit Polen befasster Disziplinen zu integrieren und die skizzierten Themen in fächerübergreifender Zusammenarbeit zu erforschen.

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Konfigurationen und Rekonfigurationen von Gemeinschaft und Gesellschaft

Die geographischen und politischen Räume, in denen polnische Geschichte in gut tausend Jahren stattfand, variierten vielfach: Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es Phasen beträchtlicher herrschaftlich-staatlicher Expansion, in deren Folge der polnisch-litauische Unionsstaat mit seinen litauischen, weißrussischen und ukrainischen Bestandteilen zeitweise der größte Flächenstaat Europas wurde. Am Ende des 18. Jahrhunderts dagegen hörte Polen für mehr als 100 Jahre auf, als souveräner Staat zu existieren. Bis in die 1980er Jahre blieb die politische Souveränität Polens in seinen jeweiligen Grenzen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg prekär.

Die polnische Geschichte lässt sich deshalb nicht einfach als eine Nationalgeschichte innerhalb mehr oder weniger stabiler Grenzen erzählen. Sie war stets auch die Geschichte sprachlich bzw. ethnisch nichtpolnischer Gemeinschaften, die ungeachtet ihrer jeweiligen Besonderheit integrativer Bestandteil Polens waren. Im Forschungsfeld Konfigurationen und Rekonfigurationen befassen wir uns interdisziplinär mit der Frage, was im einzelnen Fall polnische Gesellschaft ausmachte bzw. ausmacht. Wie konfiguriert sie sich infolge politischer Umbrüche, Grenzverschiebungen und Migrationen immer wieder neu?

Welche kleineren Alternativen sozialer, politischer, ökonomischer, religiöser und sprachlicher Art tun sich auf? Ein wichtiges Feld zur Reflexion dieser Fragen sind lokale und regionale Gemeinschaften, an deren Beispiel sich Rekonfigurationen von Bevölkerung, sozialer Struktur, Kultur und Sprache tiefenscharf nachvollziehen lassen. Dieser Ansatz unterscheidet sich grundlegend von der Analyse staatlicher Systeme oder auch einzelner ethnischer Gemeinschaften. Wir interessieren uns für die variierenden Räume, Kontexte und Orientierungen polnischer Geschichte und Kultur aus dem Blickwinkel sozialer Interaktion, vor allem für die verschiedenen Formen von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung.

Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Reflexion und Integration unterschiedlicher narrativer Leitkategorien, etwa Klasse, Gender, Religion oder Nation.

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Polen in seinen europäischen und internationalen Verflechtungen

Die historische und gegenwärtige Mittellage Polens in Europa sowie Phänomene wie Migration und ökonomisch-kommunikative Globalisierung stellt die Forschung vor neue Herausforderungen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, die fest etablierte bilaterale Untersuchung der deutsch-polnischen Beziehungen um die Erforschung der vielfältigen europäischen und internationalen Dimensionen Polens in Geschichte und Gegenwart zu erweitern.

In Polen richtet sich der Blick heute selbstverständlich auf den „Westen“. Hingegen ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit den russisch-polnischen Verflechtungen durch historische Konflikte ebenso wie durch aktuelle politische Spannungen erschwert. Ein Ziel des Aleksander-Brückner-Zentrums ist es, die polnisch-russischen ebenso wie die deutsch-polnischen Beziehungen durch übergeordnete Fragestellungen zu kontextualisieren und in international zusammengesetzten Forschungsgruppen zu untersuchen. Wie zum Beispiel lässt sich das Phänomen Zwangsmigration und Neuansiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg im europäischen Vergleich analysieren?

Der „Blick nach Osten“ gilt auch den anderen östlichen Nachbarn Polens, insbesondere der Ukraine, Litauen und Belarus, deren intensive historische, kulturelle und sprachliche Verflechtungen mit Polen sich bis heute auf vielfältige Weise manifestieren.

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