Eindrücke von einem Studiensemester in Polen
Von Zimmern und Straßen. Oder: Erasmus zu Zeiten, in denen Corona nicht die einzige Krise ist. Judith Fliehmann berichtet von ihren Aufenthalten in Wrocław
Wenn ich als 80-jährige babcia an mein Jahr in Polen zurückdenken werde, werde ich mich vor allem an eines erinnern: So aktiv wie hier war ich nie. Und damit meine ich nicht die Aktivitäten, die einem bei dem Wort Erasmus eigentlich in den Sinn kommen: Feiern, Reisen, Freundschaften schließen. Denn den Großteil meiner Erasmus-Zeit verbrachte ich coronabedingt alleine in meinem Zimmer.
Mit aktiv meine ich Aktivismus. Und zum Aktivismus gab es während meines Erasmus genügend Gründe.
Marsz Równości I – Regenbogen im schwarzen Rahmen
Meinen ersten Sommer in Wrocław verabschiedete ich laufend. Besser gesagt marschierend. Am letzten Tag des Sommers zogen wir durch die Straßen, um für Akzeptanz und Gleichberechtigung zu demonstrieren. Für die Toleranz aller Sexualitäten, die nicht den traditionellen Vorstellungen einer heterosexuellen, monogamen Paarbeziehung entsprechen. Denn der Name der Veranstaltung – Gleichheitsmarsch – weicht nicht ohne Grund von der Bezeichnung „Pride Parade“ ab. Die Paraden in Polen haben einen anderen Charakter als etwa in Deutschland. Es kann auf dem Marsz Równości nicht darum gehen, die eigene Sexualität zu zelebrieren, denn zu allererst muss sich Gleichberechtigung erkämpft werden. Davon zeugte auf dem Marsch in Wrocław ein schwarzer Rahmen von Polizisten, der die regenbogenfarbenschwenkende Menge umgab. Wem es gelang, durch die schwarze Wand zu spähen, konnte am Straßenrand die dunklen Plakate der Gegendemonstranten sehen: „Stop Pedofilii“. Nicht-Heterosexualität setzen die Gegendemonstranten mit Pädophilie gleich.
All die Ausgelassenheit umgeben von einer ständigen Erinnerung daran, dass Freiheit und Gleichheit in Polen derzeit nur unter Polizeischutz bestehen kann.
Strajk Kobiet – „Won!“ „Wypierdalać” und „Proszę sobie iść”
Am 22 Oktober 2020 beschloss der polnische Verfassungsgerichtshof die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, wonach eine Abtreibung nur noch möglich ist, wenn die Schwangerschaft die Folge einer Straftat ist oder das Leben der schwangeren Frau gefährdet. Ein Beschluss, der mich aus meiner Depression rettete. Die Leere und Kälte meines Zimmers, in das mich die kwarantanna narodowa verbannt hatte, wurde mit brennender Wut gefüllt.
Wut und Freude, denn endlich hatte ich wieder eine Aufgabe. Plakate malen wurde mein neues Hobby, protestieren gehen mein neuer Sport. Jeden Tag füllten Protestierende die Straßen Wrocławs. Auf Schildern forderten sie in variierenden Höflichkeitsstufen die regierende Partei PiS zum Abgang auf: „Won!“ („Raus!“), „Wypierdalać” („Verpisst euch!”) und „Proszę sobie iść.” („Bitte gehen Sie.”).
Ob zu Fuß, auf dem Rad, im Auto oder aus dem Fenster winkend – die Pandemie brachte vielseitige Protestmobilitäten hervor. Dank der kilometerweiten Protestmärsche in der Gesellschaft tausender Fremder, die alle dasselbe wollen – die Selbstbestimmung der Frau über ihren eigenen Körper – entdeckte ich Ecken Wrocławs, in die es mich sonst nie verschlagen hätte. Danke, PiS!
PolExit – Polska in, PiS out
Neuer Oktober, neue Proteste. Am 7. Oktober 2021 entschied das Verfassungsgericht über den Vorrang des polnischen Rechts vor dem EU-Recht. Dies wird von Teilen der Opposition, der Bevölkerung und Politikexperten als Schritt in Richtung Polexit gewertet – dem Austritt Polens aus der Europäischen Union.
Welch ein Déjà-Vu. Mein letztes Erasmussemester verbrachte ich kurz vor dem Brexit in England. Nun sieht es aus, als könnte dieses Schicksal auch Polen bevorstehen. Bin am Ende ich es, die durch meine bloße Anwesenheit die Länder aus der EU treibt? Einen anderen logischen Grund kann ich nicht finden, denn mit wem ich auch spreche, den Brexit bzw. Polexit wünscht sich niemand. In den letzten Monaten meines Aufenthalts in Polen habe ich Interviews für meine Masterarbeit geführt. Der Großteil meiner Interviewpartner*innen bekennt sich klar zur EU. Sie wünschen sich mehr Offenheit und Kooperation der polnischen Regierung gegenüber der Union. Gleichzeitig fühlen sie sich von „Bruksela“ und „Berlin“ an den rechten Rand – Entschuldigung, östlichen Rand gerückt. Vom „Westen“ fühlen sie sich nicht gesehen. Während meiner Zeit in Polen habe auch ich mich oft darüber aufgeregt, wie wenig man sich in Deutschland über die Geschehnisse in Polen aufregt. Fünf Sterne Abzug für diese europäische Solidaritätsgemeinschaft.
Marsz Równości II – Gewohnheitstrott
Auch mein zweiter Sommer in Wrocław ging bunt zu Ende. In der Oktobersonne spazierten wir demonstrierend durch die Straßen. Diesmal empfand ich den Marsz Równości als viel leiser, ruhiger, gemächlicher – sind die Aktivist*innen müde geworden? Oder habe ich mich einfach an den Trubel gewöhnt?
Homophobie auf den Straßen – gehen oder stehen?
In der letzten Woche meines Aufenthalts war es dann so weit. Auf dem Weg in die Bibliothek fuhr auf der Staße neben mir einer der berühmtberüchtigten Transporter mit einschlägigen Aufdrucken: Homosexualität = Pedpohilie, Abtreibung = Mord. Aus seinen Lautsprechern tönten Ausführungen, die die Bezeichnung homophobe Propaganda verdienen. In diesem Moment beschloss ich innezuhalten – und zwar vor dem Transporter. Das Blockieren dieser Propaganda-Transportern ist eine gängige Protestpraxis in Polen, die man immer wieder in den sozialen Medien zu sehen bekommt. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass auch ich einmal vor solch einem Gefährt landen würde und ich bin unendlich traurig, dass ich es musste. Doch in Zeiten, in denen Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Sexualität oder ihrer Identität gesetzlich diskriminiert und gesellschaftlich ausgeschlossen werden, sehe ich es als meine Pflicht, auf die Straße zu gehen. Im wahrsten Sinne des Wortes.